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Die Stunde Null otwhwsatp Frei.Zeit. Translokation Verfälscht Vanitas PolaroidPiraten


                         
                                             

 
 
 
 
 
 
 
 
 
       
                                             

Die Stunde Null (2018)
Fotobuch - 40 Seiten - Auflage 20

Westdeutschland, 01. September 1945, der Krieg ist vorbei, die Zukunft ungewiss, die Alliierten regieren das Land. Historische Aufnahmen, die uns ein ganzheitliches Bild der damaligen Zeit vermitteln. Das neue Leben, geprägt von ankommenden Soldaten, ländlichem Alltag und Zuflucht suchenden Vertriebenen, festgehalten für eine Epoche, von der nur noch wenige Zeitzeuginnen und Zeitzeugen berichten können.

Die Täuschung ist perfekt, der trügerische Schein absoluter Authentizität wird bis ins letzte Detail gewahrt. Tatsächlich befinden wir uns in Schwäbisch Hall-Wackershofen, wo passionierte Laiendarstellerinnen und -darsteller für einige Tage eine vollständig andere Realität entstehen lassen. Dieser künstlich konstruierten Wirklichkeit ist Urs Tilman Daun mit einer analogen Kleinbildkamera gefolgt. Im dort ansässigen Hohenloher Freilandmuseum wird unter dem Titel "1945 - Der erste Sommer in Frieden" Geschichte nicht nur erzählt, sondern beinahe vollständig erlebbar. Das sogenannte Reenactment, zu Deutsch das Nachstellen und Neuinszenieren historischer Ereignisse, bringt Menschen zusammen, die danach streben, das kollektive Gedächtnis zu erweitern. Nicht nur den großen Erzählungen, sondern auch der Alltagskultur soll Raum gegeben werden.

Stets ist Dauns fotografische Tätigkeit vor Ort begleitet von einer Unklarheit: Was treibt Menschen an, eine andere Identität anzunehmen? Um diese Frage zu beleuchten, rückt Daun nah ans Geschehen heran und begibt sich als (Nach-)Kriegsberichterstatter in das schwäbische Dorf. Er dokumentiert nicht nur, wie Menschen Rollen spielen, die das Leben im Jahr 1945 prägten, sondern konfrontiert die Betrachtenden mit dem daraus resultierenden, irreführenden Illusionismus. In diesem Schauspiel der kurzzeitig wiederbelebten Vergangenheit verliert die reale gesellschaftliche Ordnung ihre Bedeutung. Die konstruierte Welt wird vorrübergehend zur realen. Diesen Effekt verstärken Dauns Fotografien. Die nostalgisch anmutenden schwarz-weißen Aufnahmen fangen den angestrebten Dialog zwischen Geschichte und Gegenwart ein.

Die Beweggründe für die Teilnahme am Reenactment bleiben letztendlich subjektiv. Offenkundig ist jedoch, dass die performative Zeitreise mehr ist als ein beiläufiges Hobby, schließlich verlangt sie akribische, archivarische Recherche. Auf diese Weise entsteht kein rein unterhaltendes Spektakel, sondern vielmehr ein hybrides Ereignis, das sich zwischen Geschichtswissenschaft, Schauspiel und Freizeitbeschäftigung bewegt.

Es ist eine merkwürdige Form der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, in welcher der ephemere Charakter von Geschichte aufgehoben und als Faktum in unsere Zeit transferiert wird - von eben diesem ambivalenten Zusammenspiel zeugen Dauns Fotografien.

Text: Hannah Katalin Grimmer